Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger,
liebe Genossinnen und Genossen,
das Scheitern der Partner der schwarzen Ampel hat alle überrascht. Hatten Merkel und Co. sowie ein Großteil der Journalisten in den Monaten vor und in den Wochen nach der Bundestagswahl noch das schwarz-gelb-grüne Projekt herbeigejubelt, soll jetzt wieder die SPD Verantwortung übernehmen. Der FDP wird Rückgrat bescheinigt, während die SPD plötzlich wieder den kleinsten gemeinsamen Nenner suchen soll.
Dass die SPD gerade in dieser Situation ganz viele Dinge in einen Koalitionsvertrag verhandeln könne, habe ich auch vor vier Jahren schon so vernommen. Dennoch wurden durch die Große Koalition die Ränder gestärkt und die großen Parteien als monolithischer Block empfunden. Das würde in ein paar Monaten bei einer Neuauflage dieser Koalition nicht anders sein.
Klar ist auch, wir haben als gewählte Parlamentarier*innen Verantwortung. Deshalb ist mir die Debatte Große Koalition vs. Neuwahl viel zu oberflächlich. Sie wird auch der Verfassung nicht gerecht. Es gibt zahlreiche Optionen zwischen diesen Extremen. Deshalb hat der SPD-Parteivorstand einstimmig am Montag beschlossen, dass wir uns einerseits vor Neuwahlen nicht fürchten und andererseits keine Basis für eine erneute Große Koalition sehen, aber gerade jetzt die Verfassungsorgane und Parteien gefordert sind, Gespräche über den besten Weg zu führen. Das ist für mich jetzt die zentrale Herausforderung. Ich habe deshalb als Sprecher der Parlamentarischen Linken (PL) eine Positionierung verfasst, die wie folgt lautet:
Festlegung auf Inhalte statt auf Koalitionen!
Die SPD hat eine Neuauflage der Großen Koalition ausgeschlossen, da nach den vergangenen vier Jahren alle inhaltlichen Schnittmengen mit der CDU/CSU aufgebraucht waren. Daran hat sich auch nach den gescheiterten Sondierungsgesprächen zu einer Schwarzen Ampel nichts geändert. Wir lassen uns keine Debatte über ein Ja oder ein Nein zur Großen Koalition aufzwingen. Mit Forderungen nach Koalitionsgesprächen ohne inhaltliche Vorbedingungen wird der Glaubwürdigkeit der SPD geschadet. Wer ohne Not eine Neuauflage einer Koalition mit der Union fordert, setzt auf das falsche Pferd.
Jenseits einer Großen Koalition und Neuwahlen bleiben zahlreiche Möglichkeiten. Neben tolerierten Minderheitsregierungen sind weitere Koalitionen und auch Kooperationen denkbar. Als gewählte Parlamentarierinnen und Parlamentarier sind wir gefordert, alle von der Verfassung vorgesehenen Alternativen sorgfältig zu beraten. Hierzu ist die Phantasie und Gesprächsbereitschaft aller demokratischen Parteien gefragt.
Die SPD hat in ihrem Wahlprogramm klare inhaltliche Anforderungen formuliert, die nun Gegen-stand möglicher Gespräche sein müssen. Deutschland gehört zu den reichsten Ländern der Welt, doch Wohlstand und Chancen sind völlig ungerecht verteilt. Dies wollen wir ändern!
Wir wollen soziale Sicherheit für alle Menschen garantieren mit der Einführung von Familiengeld sowie Solidarrente, einer solidarischen Bürgerversicherung und klaren Verbesserungen in der Pflege. Wir wollen Wohnen bezahlbar machen durch Investitionen in den sozialen Wohnungsbau und schärfere Regeln für Vermieter.
Wir wollen die Schere zwischen Arm und Reich schließen durch umfassende Steuerreformen. Hierzu zählen vordringlich Veränderungen der Einkommenssteuer durch die Einführung einer Reichensteuer sowie eine deutlich stärkere Besteuerung von Unternehmenserbschaften.
Wir wollen gute und gut bezahlte Arbeit für alle Menschen in unserem Land durch einen öffentlich geförderten Arbeitsmarkt, die Abschaffung sachgrundloser Befristungen sowie Ausnahmen beim Mindestlohn und gleicher Bezahlung von Frauen und Männern. Den Niedriglohnsektor wollen wir weiter bekämpfen.
Wir wollen gute und gebührenfreie Bildung unabhängig von Herkunft, Geldbeutel und Alter. Hierzu muss das Kooperationsverbot beendet werden, denn wir brauchen massive Investitionen in Kitas, Schulen und Hochschulen sowie einen Qualifizierungsanspruch für alle.
Wir wollen ein klares Bekenntnis zu einem starken und solidarischen Europa mit einem einheitlichen Finanz- und Steuersystem sowie klaren Vorgaben zur Bewältigung gemeinsamer Aufgaben wie der Aufnahme von Geflüchteten.
Wir wollen international Frieden schaffen und müssen Rüstungsexporte deutlich begrenzen. Wir wollen internationale Kooperationen bei weltweiten Herausforderungen vorantreiben, vordringlich im Klimaschutz und bei der Entwicklungszusammenarbeit.
Ich bin sicher, auch Sie und Ihr diskutiert momentan intensiv über die politische Lage, sodass ich für Ihre/Eure Reaktionen dankbar bin. Neben den ohnehin geplanten Mitgliederversammlungen werde ich zusätzlich im Wahlkreis eine Veranstaltung für einen direkten Gedankenaustausch planen – wenn die Dinge etwas klarer sind und ich eine bessere Planung meines derzeit völlig chaotischen Terminplans habe. Aber es war mir wichtig, diese Gedanken Ihnen/Euch bereits jetzt zukommen lassen.
Hier finden Sie/findet Ihr meine Persönliche Erklärung sowie das Papier der Parlamentarischen Linken in der SPD-Bundestagsfraktion auch zum Download:Festlegung auf Inhalte statt auf Koalitionen!