Meine Persönliche Erklärung zur aktuellen politischen Lage

Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, liebe Genossinnen und Genossen,

 

mittlerweile haben wir die ersten Diskussionsveranstaltungen über den Koalitionsvertrag in der Region Hannover durchgeführt. Die SPD diskutiert leidenschaftlich und unter großer Beteiligung. Da mich immer wieder die unterschiedlichsten Fragen zu diesem Thema erreichen, möchte ich in dieser Persönlichen Erklärung meine Einschätzung zu diesen weitergeben. Natürlich handelt es sich hierbei um meine persönliche Meinung. Alle in der Partei sind nun aufgerufen, sich ein eigenes Urteil zu bilden:

 

  1. Wie konnte es von einer No-GroKo nach der Wahl zu einer GroKo kommen?

Ich halte es nach wie vor für richtig, dass nach der Wahl am 24.09.2017 eine Große Koalition ausgeschlossen worden ist, um den maximalen Druck nach Alternativen zu erhöhen. Jamaika ist daraufhin kläglich gescheitert. Das lag in keiner Weise an der SPD.

Zudem habe ich es auch für richtig gehalten, nach dem Scheitern von Jamaika die Große Koalition auszuschließen und nach einer Alternative zu suchen. Ich bin davon überzeugt, in den Wochen danach alles in meiner Macht stehende getan zu haben, um Alternativen aufzuzeigen. So habe ich ein Kooperationsmodell vorgeschlagen, das ich in den vergangenen Persönlichen Erklärungen skizziert habe. Leider bin ich damit gescheitert und musste mir in der Öffentlichkeit, in der Presse und auch innerhalb der SPD teilweise bittere Kommentare gefallen lassen. Insbesondere sind es aber CDU und CSU gewesen, die keinerlei Willen zu entsprechenden Alternativen erkennen ließen, sodass dann der Bundesparteitag im Dezember die alternative Prüfung – auch der Großen Koalition – in Form von Sondierungen beschlossen hat. Dazu wurden mehrere Themenschwerpunkte benannt, die letztlich in den Sondierungen geprüft worden sind. Der Bundesparteitag im Januar 2018 hat dann wiederum auf Grundlage dieser Sondierungen und der Absage an Alternativen für Koalitionsverhandlungen mit der CDU/CSU, wenn auch mit knapper Mehrheit, votiert. Diese führte zu der aktuellen Situation. Vor uns liegt ein Koalitionsvertrag, der nach meiner Einschätzung das Maximum an sozialdemokratischen Inhalten in einer entsprechenden Koalition hergibt. Das gilt auch für die Ressortverteilung, sodass es z. B. möglich ist, eine völlig andere Europapolitik zu gestalten, dadurch, dass die SPD sowohl das Außen- als auch das Finanzministerium besetzt.

Unter der Abwägung der vorliegenden Alternativen, des vorliegenden Entwurfs des Koalitionsvertrages, der Ressortverteilung und der allgemeinen Stimmungslage in der Bevölkerung, spreche ich mich deshalb für ein Ja bei dem Mitgliedervotum aus.

 

  1. Warum ist eine Minderheitsregierung unwahrscheinlich?

Nach meiner Wahrnehmung lehnt der Bundespräsident diese Variante ab, sodass es durchaus möglich ist, dass er nach Art. 63 der Verfassung den Weg über die Neuwahlen gehen wird, wenn es zu entsprechenden Voten bei den jeweiligen Wahlgängen kommt.

Natürlich ist es aber auch möglich, dass aufgrund der Voten im Bundestag zunächst die Bundeskanzlerin gewählt wird, und es dann tatsächlich zu einer Minderheitsregierung kommt, die nach meiner Auffassung aber schnell in einer Vertrauensfrage der Kanzlerin münden kann, die wiederum zu Neuwahlen führt. Diese Instabilität schlussfolgere ich nicht nur aus den Verhältnissen im Bundestag, sondern auch aus der Instabilität von CDU/CSU, sodass die Fliehkräfte meiner Einschätzung nach insgesamt erheblich sind. Ich bitte in diesem Zusammenhang auch zu bedenken, dass wir im derzeitigen Bundestag eine national-konservative Mehrheit haben. All denjenigen, die das Flüchtlingskapitel im Koalitionsvertrag kritisieren, möchte ich sagen, dass nach meiner Einschätzung bei einer konservativen Minderheitsregierung viel restriktivere Entscheidungen getroffen werden. Das betrifft nicht nur den Familienzusammenzug, sondern auch das Thema Einwanderungsgesetz und den Umgang mit langjährig Geduldeten. Aber auch die Erfolge der Verhandlungen in der Europa-, Bildungs- und Sozialpolitik werden in dieser Form im Rahmen einer Minderheitsregierung angesichts der Mehrheitsverhältnisse im Bundestag nicht mehr realisierbar sein.

 

  1. Wie ginge es bei einer Ablehnung durch die Mitglieder weiter?

Die Antwort auf dieses Szenario kann natürlich nur eine Prognose sein. Ich glaube jedoch nicht, dass es zu weiteren Verhandlungen kommen würde (Jamaika). Art. 63 der Verfassung sieht dann vor, dass der Bundespräsident einen Vorschlag macht. Je nach Ausgang der jeweiligen Wahlgänge kann dann der Weg zu Neuwahlen direkt oder über die Minderheitsregierung führen, s. Antwort zu Frage 2.

 

  1. Warum sollen die Klimaschutzziele 2020 nicht mehr eingehalten werden?

An keiner Stelle sind die Klimaschutzziele aufgegeben worden. Aber auch mir war es wichtig, dass wir uns endlich ehrlich machen und mit der Symbolpolitik aufhören. Letztlich haben wir im Gegensatz zu vielen anderen Ländern viele Jahre von der Umgestaltung der Wirtschaft in den neuen Bundesländern profitiert. Auch die Maßnahmen, die die Grünen im Rahmen der Jamaika-Verhandlungen durchsetzen wollten (all die Vorschläge waren in Klammern gesetzt und längst nicht beschlossen), hätten nicht zu der Erreichung des Klimaschutzziels 2020 geführt. Allerdings wären möglicherweise große Verwerfungen im rheinischen Revier, in der Lausitz etc. die Folge gewesen, sodass es nicht zu einem konstruktiven Dialog zwischen den unterschiedlichen Gruppen gekommen wäre. Ich bin deshalb schon ein bisschen stolz, dass es uns gelungen ist, in dem Koalitionsvertrag erstmals definitiv vom Kohleausstieg zu reden, was gerade auch innerhalb der SPD eine der bislang nie abschließend geklärten Fragen gewesen ist. Diese Frage soll allerdings zunächst im Dialog zwischen den betroffenen Regionen, Gewerkschaften und Umweltverbänden erfolgen, da wir letztlich einen Konsens brauchen, der, wie beim Ausstieg aus der Atomtechnologie, jahrzehntelang hält.

Erstmals ist es zudem gelungen, ein Klimaschutzgesetz zu vereinbaren, das das Klimaschutzziel 2030 gewährleisten soll und vor allem neben dem Energiesektor auch die Sektoren Gebäude und Verkehr umfasst. Dass ein CDU-Verhandler mir entgegenhielt: „Das haben wir nicht mal den Grünen zugestanden“, macht vielleicht die Reichweite dieser Entscheidung deutlich. Klar ist, dass dieses Gesetz eine Hauptauseinandersetzung der unterschiedlichen Interessensgruppen bedeuten wird. Ein riesiger Transformationsprozess für die kommenden Jahre wird darin angelegt sein müssen. Das ist mitnichten ein Selbstläufer. Gerade deshalb war es mir wichtig, im Vertrag zu verankern, dass das Gesetz im Jahr 2019 verabschiedet werden soll. Diesbezüglich verweise ich auch auf die grundsätzliche Überprüfungs-/Revisions-Klausel, die sich im Vertrag wiederfindet und die genutzt werden kann, um den erforderlichen Druck aufzubauen.

 

  1. Wie würde sich die Erneuerung unserer Partei in der Regierung gestalten?

Betrachtet man das Ergebnis der SPD nach vier Jahren Opposition im Jahr 2013 und nach den Jahren in der Großen Koalition, so kann man nach meiner Auffassung weder sagen, dass eine Erneuerung in der Opposition oder in der Regierung garantiert werden kann. Warum hatten wir mit Martin Schulz im Februar 2017 hohe Umfragewerte? Nach meiner Einschätzung war es die Hoffnung auf einen neuen großen Wurf, die mangels programmatischer Vorarbeit aber nicht erfüllt werden konnte. In den letzten 15 Jahren fehlte die Auseinandersetzung innerhalb der Partei – das betrifft nicht nur die SPD – über die großen Fragen unserer Zeit und damit die Suche nach plausiblen Antworten, die Menschen den Eindruck vermitteln, dass hier eine Idee vorhanden ist, für die es sich lohnt zu votieren.

Mit den zwölf Thesen (abrufbar unter: https://www.matthias-miersch.de/zwoelf-thesen/) habe ich versucht, ein paar dieser Punkte zu benennen, die nach meiner Auffassung dafür nötig sind. Welches Staatsverständnis haben wir angesichts von Globalisierung? Was bedeutet für uns Daseinsvorsorge? Was heißt für uns soziale Sicherung, und wie machen wir die Systeme zukunftsfähig? Was ist die Zukunft der Arbeit? All diese Punkte werden auch in der SPD hoch umstritten sein. Aber wir werden diesen Diskurs führen müssen, so wie wir es ansatzweise bei den Themen TTIP und CETA getan haben.

Ich will nicht unerwähnt lassen, dass ich in dem vorliegenden Koalitionsvertrag durchaus erste Ansätze sehe, auf denen man im Hinblick auf 2021 weiter aufbauen kann. Das betrifft die Europa-Politik, die Bildungspolitik und auch so etwas wie den öffentlichen Beschäftigungssektor, für den ich seit Jahren gekämpft habe, und der jetzt Realität werden kann. Und das betrifft die Anerkennung der planetaren Grenzen, was sowohl Umwelt, Klima wie auch die Ernährung betrifft. Um nicht falsch verstanden zu werden: Ich sehe hier Ansätze – nicht mehr und nicht weniger.

Neben diesen inhaltlichen Neuaufstellungen brauchen wir, so glaube ich, eine sehr selbstbewusste Fraktion, die dem Regierungshandeln auch kritisch gegenübertritt und eben nicht nur jeden kleinsten gemeinsamen Nenner sucht. Dass daneben ein Personal erforderlich ist, das Teamplay in den Mittelpunkt stellt, will ich nur am Rande erwähnen.

Darüber hinaus wird sich die Partei organisatorisch erneuern müssen. Teilweise haben wir in bevölkerungsreichen Bundesländern weiße Flecken, in denen die SPD nicht mehr vorkommt.

 

  1. Was will die SPD tun, damit wir in der Großen Koalition nicht untergehen?

Die Frage hängt mit der Antwort unter 5. eng zusammen. In der letzten Großen Koalition haben wir gesehen, dass die Umsetzung von Punkten aus dem Wahlprogramm alleine nicht reicht. Es geht, jenseits der Alltagspolitik, um das Finden plausibler Antworten auf die großen Fragen dieser Zeit. Es muss auch um konstruktiven Streit gehen und nicht nur um das Finden des kleinsten gemeinsamen Nenners. Helfen könnte, dass wir spätestens im Jahr 2021 – oder wenn die Beachtung der Revisionsklausel im Koalitionsvertrag im Jahr 2019 dazu führt – eine Auseinandersetzung über das Einlösen der vereinbarten Ziele erleben werden und dann nicht mehr eine Kanzlerin Angela Merkel antreten wird, sodass ein wirklicher Kampf um Ideen,  einschließlich von Köpfen, stattfinden wird.

 

  1. Wie ist sichergestellt, dass der Koalitionsvertrag gemeinsam (mit der Union) umgesetzt wird?


Auch wenn ich mit der Suche nach einem alternativen Weg bislang gescheitert bin, so glaube ich schon, dass die Aufnahme der Revisionsklausel zur Hälfte der Periode ein Punkt ist, der aus diesen Debatten entstanden ist. Ich sehe hierin ein scharfes Schwert, das dazu führen muss, dass die großen Entscheidungen, die im Koalitionsvertrag angelegt sind, bis Ende 2019 umgesetzt worden sind.

 

  1. Was sind die verbindlich vereinbarten Inhalte im Koalitionsvertrag, die auf jeden Fall in der nächsten Legislatur umgesetzt werden, wenn eine Große Koalition zustande kommt?

Hier möchte ich auf die vielen Flugblätter aus dem Willy-Brandt-Haus verweisen. Folgende Inhalte müssen durch entsprechende Gesetze schnell umgesetzt werden, um noch vor der Revision im Rahmen der bereits erwähnten Überprüfungsklausel die Vertragstreue von CDU/CSU prüfen zu können:

Die Abkehr einer restriktiven Politik hin zu einem wirklich solidarischen Europa (Investitionen, steuerliche Initiativen sowie wirkungsvolle Schritte zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit in Europa), die Einführung der Parität in der Krankenversicherung, die Abschaffung des Solidaritätszuschlags mit Ausnahme der Gut-Verdiener, die faktische Aufhebung des Kooperationsverbotes im Bildungsbereich, die Schaffung eines öffentlichen Beschäftigungssektors, die Schaffung einer Mindestvergütung für Azubis, die Einführung einer Solidarrente, die vereinbarten Förderprogramme zur Schaffung bezahlbaren Wohnraums und auch das Klimaschutzgesetz, auf das ich oben bereits hingewiesen habe.

Letztlich zeigen diese Punkte, dass sich in vielen Bereichen etwas positiv verändert und somit die Grundlagen geschaffen werden, die großen Herausforderungen anzupacken.

 

Abschließend möchte ich auf die Reaktionen der „anderen Seite“ hinweisen. CDU/CSU diskutieren über die Aufgabe elementarer Politikbereiche auch angesichts der Verteilung der Ministerien. Arbeitgeberverbände und der Bundesverband der Deutschen Industrie sprechen von Umverteilung und Regulierung im großen Stil. Auch an diesen Reaktionen zeigt sich, dass der Koalitionsvertrag für die SPD eine gute Ausgangsposition sein kann, die dann mit dem Erneuerungsprozess eine echte Chance bieten kann.

 

Herzliche Grüße!
Ihr/Euer Matthias Miersch

 

Meiner Persönliche Erklärung zum Download: 20.02.2018_Koalitionsvertrag_Mitgliedervotum