Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger,
liebe Genossinnen und Genossen,
am vergangenen Freitag wurde um 5.00 Uhr morgens der Durchbruch erreicht. 27 der 28 Mitglieder der sogenannten Kohlekommission stimmten für den Abschlussbericht, mit dem sich nun Bundesregierung und Bundestag beschäftigen müssen. Ich muss zugeben, dass mich dieses Ergebnis wirklich stolz macht. Vor gut einem Jahr haben Stephan Weil und ich in den Sondierungsgesprächen diese Kommission vorgeschlagen und schließlich in den Koalitionsvertrag hinein verhandelt. Unsere Überlegung war damals von der Frage geprägt, wie wir in der Kohleausstiegsfrage einen gesellschaftspolitischen Konsens herstellen können, der über Jahrzehnte hinweg tragen kann. Dass nun Gewerkschaften, Umweltverbände, Wissenschaft und Industrie einen Konsens gefunden haben, ist großartig.
Während die „Jamaika-Verhandlungen“ an der Kohlefrage scheiterten, da mal kurz aus dem Nichts eine nicht belastbare Gigawattzahl an Abschaltkapazität verhandelt wurde, haben sich die unterschiedlichen Vertreter in der Kommission intensiv mit zahlreichen Sachfragen auseinandergesetzt und sind zu einem Vorschlag gekommen, der sowohl die ökologische als auch die sozialen und ökonomischen Aspekte fundiert beleuchtet. Das Ergebnis ist auch unter Klimaschutzaspekten weit mehr, als die Dinge, die Bündnis 90/Die Grünen mit CDU und FDP durchsetzen wollten: Zunächst erreichen wir 2022 im Energiesektor wieder das gesteckte Klimaziel und nehmen noch mehr Kohlekapazitäten vom Netz, als in Jamaika angedacht. Darüber hinaus ist in den kommenden 20 Jahren ein belastbarer Kohleausstiegspfad vereinbart, der noch dazu in einem konkreten Ausstiegsdatum mündet!
Natürlich gibt es jetzt auch wieder kritische Stimmen: Gestern hatten wir auf Antrag der FDP eine Aktuelle Stunde im Deutschen Bundestag, die schon einen Vorgeschmack auf die kommenden Debatten gab. AfD, FDP und Teile der CDU/CSU sehen keinen Sinn darin, dass Deutschland derart ambitioniert Klimaschutz betreibt, indem auf den weltweiten Ausstoß von CO2 verwiesen wird. Diesbezüglich kann ich nur immer wieder betonen: Wenn Länder wie Deutschland mit ihrem hohen CO2-Fußabdruck nicht Vorreiter sind, werden wir niemals andere Staaten gewinnen, die Ziele des Pariser Klimaschutzabkommens zu erreichen. Ich rate all den Kritikern, sich auch genau die Berechnungen anzuschauen, die die volkswirtschaftlichen Schäden ausweisen, die entstehen, wenn wir nicht ambitioniert Klimaschutz betreiben.
Zudem müssen wir als Exportnation ein großes Interesse daran haben, Vorreiter im Bereich der Industrie und Wirtschaft zu sein, um unsere Produkte weltweit vertreiben zu können, da in den kommenden Jahren die Nachfrage nach umweltfreundlichen Herstellungsverfahren und Erzeugnissen massiv steigen wird. Insofern müssen die Mittel, die in den kommenden Jahren vom Bund den Ländern zur Verfügung gestellt werden, gerade in Zukunftstechnologien investiert werden.
Und wenn speziell die FDP die Strukturhilfen kritisiert, so muss auf die USA verwiesen werden. Wenn die Transformation in der Energiewirtschaft nicht durch staatliche Investitionen flankiert wird (in den USA ging die Entwicklung von der Kohle zum Fracking-Gas), entstehen durch dieses neo-liberale Denken Strukturbrüche mit der Verelendung ganzer Regionen.
Zudem sind aber auch die Kosten, die nun für den Kohleausstieg in den kommenden Jahren teilweise genannt werden, in keiner Weise belastbar. Zunächst müssen Bund und Länder, ausgehend von den Kommissionsvorschlägen, konkret über die Höhe der Strukturhilfen verhandeln. Gleiches gilt auch für eventuelle Entschädigungen, die durch einen früheren Ausstieg an die Konzerne möglicherweise zu zahlen sind. Zahlreiche Kraftwerke werden aufgrund der Betriebsdauer entschädigungsfrei stillzulegen sein. Ich halte es allerdings auch für gerechtfertigt, einen Preis zu zahlen, wenn Kraftwerke früher vom Netz gehen und dadurch z.B. eine gesellschaftliche Befriedung durch Rettung des Hambacher Forstes erreicht wird.
Das Argument, die Industrie müsse steigende Strompreise kompensiert bekommen, ärgert mich besonders. Zunächst ist fraglich, ob die Preise überhaupt steigen werden. Darüber hinaus ist Energiepolitik in den letzten Jahrzehnten immer eine Frage politischer Steuerung gewesen. Die Kosten der Atomkraft einschließlich der Kosten für die Endlagerung sind nicht auf den Strompreis umgelegt worden. Die mit der Kohle verbundenen volkswirtschaftlichen Schäden sind ebenfalls nie eingepreist worden. Stattdessen hat man bei den Erneuerbaren Energien erstmals auf ein Umlageverfahren zurückgegriffen, das zu Ungerechtigkeiten führt, wenn beispielsweise stromintensive Industrien aus Wettbewerbsgründen richtigerweise davon befreit werden, dieser Anteil dann jedoch nicht aus Steuern finanziert wird, sondern ihn die Stromverbraucher bezahlen müssen. Was wir somit neben dem Kohleausstieg brauchen, ist eine Debatte über die Preissystematik des gesamten Energiesektors, um diese sozial und zukunftsfähig zu gestalten.
Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger,
liebe Genossinnen und Genossen,
bevor ich einzelne Aspekte des Kommissionsergebnisses noch einmal detailliert erläutere, möchte ich folgendes Zwischenfazit ziehen:
- Wer nach vergangenem Freitag noch behauptet, die SPD würde in dieser Großen Koalition nicht ausreichend für den Klimaschutz eintreten, dem muss das Kommissionsergebnis entgegengehalten werden. Das ist unser Projekt, für dessen Umsetzung wir nun gemeinsam kämpfen.
- Ich bin sicher, dass die Widerstände bei CDU/CSU groß sein werden, das Kommissionsergebnis zu realisieren. Ich hoffe sehr, dass der Druck der Wirtschaft, die Planbarkeit einfordert, auch einige Hardliner zur Vernunft bringen wird. Wir werden sehen. Das Ergebnis der Kommission steht jedoch fest und jede Koalition wird sich daran messen lassen müssen.
- Es wird weiter Organisationen geben, die Greenpeace und den BUND für ihre Mitwirkung am Kommissionsergebnis kritisieren werden. All diese Gruppen werden sich fragen lassen müssen, wie sie ihre Forderungen umsetzen wollen. In der Demokratie braucht man Mehrheiten, die gerade im Energiesektor über lange Zeit halten.
- Die Herangehensweise, die die SPD-Bundestagsfraktion in der Kohlefrage unternommen hat, ist nach meiner Einschätzung profilbildend für die SPD. Die großen Fragen und Herausforderungen, die sich z.B. auch in den Bereichen Mobilität und Landwirtschaft stellen, lassen sich nur belastbar klären, wenn die jeweilige Seite die notwendige Empathie für die andere Seite aufbringt und gemeinsam das Ergebnis entwickelt. Populistisches und polarisierendes Agieren wird in der Demokratie diese großen Herausforderungen nicht lösen. Gerade angesichts der Blasen in den sozialen Netzwerken und angesichts der „Trumps dieser Welt“, müssen und können wir als SPD nun für diesen Politikansatz kämpfen!
Gerne möchte ich jetzt für alle Interessierten noch nachfolgend die wichtigsten Eckpunkte des Abschlussberichts der Kommission mitteilen:
Klimaschutz:
- Bis 2022 werden insgesamt 12,5 GW stillgelegt. (Bei der Braunkohle 1,8 GW aus der Sicherheitsbereitschaft und 3 GW neue Stilllegungen. Bei der Steinkohle 3,4 GW, die bereits zur Stilllegung angemeldet sind, und 4,3 GW neue Stilllegungen.)
- In 2030 sollen noch maximal 9 GW Braunkohle und 8 GW Steinkohle am Netz sein. Das entspricht im Vergleich zu 2017 einem gesamten Rückgang von 10,9 GW bei Braunkohlekraftwerken und 14,7 GW bei Steinkohlekraftwerken. Damit erreichen wir das Sektorziel für die Energiewirtschaft aus dem Klimaschutzplan 2050 (175 – 183 Mio. t CO2).
- Das Enddatum der Kohleverstromung ist spätestens 2038. Sofern in 2032 nachgewiesen werden kann, dass ein Enddatum 2035 möglich ist, kann das Enddatum in Verhandlungen mit den Betreibern auf 2035 vorgezogen werden.
- In den Jahren 2023, 2026 und 2029 findet eine umfassenden Überprüfung hinsichtlich der Auswirkungen auf die Erreichung der Klimaziele, der Entwicklung der Strompreise und der Versorgungssicherheit, der Beschäftigung, der strukturpolitischen Ziele und der realisierten strukturpolitischen Maßnahmen statt. Gegebenenfalls soll nachgesteuert werden.
- Zusätzliche Punkte sind: die Sicherstellung des systemdienlichen und marktkonformen Ausbaus erneuerbarer Energien auf 65 % bis 2030, die Weiterentwicklung und Fortführung der Förderung der Kraft-Wärme-Kopplung, die Stilllegung von CO2-Zertifikaten im Rahmen des Europäischen Emissionshandels, die Überarbeitung des Systems der Entgelte, Abgaben und Umlagen im Energiebereich und die Prüfung der Einführung einer CO2-Bepreisung mit Lenkungswirkung in den Sektoren außerhalb des Europäischen Emissionshandels.
Strukturwandel:
- In einem strukturpolitischen Sofortprogramm sollen 1,5 Mrd. € für strukturpolitische Maßnahmen bereitgestellt werden.
- Insgesamt schlägt die Kommission vor, dass die von der vorzeitigen Beendigung der Kohleverstromung betroffenen Länder 40 Mrd. € für den Strukturwandel erhalten. Darin sind erstens 1,3 Mrd. € pro Jahr über 20 Jahre für Strukturmaßnahmen aus dem Bundeshaushalt enthalten. Zweitens sollen 0,7 Mrd. € über 20 Jahre zur Verfügung gestellt werden, um auf heute noch nicht absehbare Anforderungen der Strukturförderung flexibel und projektoffen reagieren zu können.
- Es wurde eine Sicherheitszusage an die Beschäftigten vereinbart. Je nach persönlicher Situation des betroffenen Beschäftigten sollen verbindliche, tarifliche Regelungen zwischen den Sozialpartnern getroffen werden, z. B. zur Sicherung einer qualifizierten Arbeit durch Vermittlung und Ausgleich von Lohneinbußen, Aus- und Weiterbildung, zur Abfederung finanzieller Einbußen oder für einen früheren Eintritt in den Ruhestand und Brücken zum APG, Ausgleich von Rentenabschlägen oder für einen sonstigen früheren Eintritt in den Ruhestand.
- Um Übergänge im Bedarfsfall zu erleichtern, soll ein Anpassungsgeld – Braunkohle – (APG-B) für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer der Braunkohleindustrie entwickelt werden. Es erstreckt sich auf alle Beschäftigten der Braunkohleunternehmen ab einem Alter von 58 Jahren. Die Geltungsdauer der APG-Richtlinie B ist an den gesamten Auslaufpfad der Kohle in Deutschland anzupassen.
- Bund und Länder werden aufgefordert, in den kommenden Jahren insbesondere Neugründungen und Erweiterungen von Behörden oder Einrichtungen in den Revieren vorzunehmen. Durch den Bund sollen insgesamt bis zu 5.000 neuen Arbeitsplätzen bis spätestens 2028 geschaffen werden.
Hambacher Forst:
- Die Kommission hält es für wünschenswert, dass der Hambacher Forst erhalten bleibt. Sie bittet die Landesregierungen, mit den Betroffenen vor Ort in einen Dialog um die Umsiedlungen zu treten, um soziale und wirtschaftliche Härten zu vermeiden.
Die Ergebnisse der Kommission müssen nun in der Bundesregierung und im Bundestag beraten werden. Viel Arbeit liegt hier vor uns. Ende 2019 wird zudem die Revisionsklausel des Koalitionsvertrags wirksam werden: Da wird es meiner Ansicht nach eine wichtige Frage sein, ob die Ergebnisse der Kommission gesetzgeberisch umgesetzt worden sind und u.a. ein wirkungsvolles Klimaschutzgesetz beschlossen werden konnte, das neben den Energiesektor vor allem auch den Verkehrs-, Gebäude- und Landwirtschaftsbereich miteinbezieht. Hier muss die Koalition beweisen, dass sie zukunftsfähig handeln kann.
Herzliche Grüße
Ihr/Euer Matthias Miersch MdB