Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger,
liebe Genossinnen und Genossen,
zunächst möchte ich mich bei allen bedanken, die mir in den letzten Tagen geschrieben haben. Ich möchte deshalb in dieser Persönlichen Erklärung direkt Stellung nehmen:
Die letzten Tage waren äußerst belastend, bewegend und an der Grenze des Erträglichen. Ich kann und möchte nicht über all meine Bemühungen in den letzten Wochen berichten, aber dennoch ein paar grundsätzliche Gedanken skizzieren:
Natürlich war auch mir bewusst, dass die Europawahl eine riesen Herausforderung darstellte. Und natürlich habe ich vor Ort, in der medialen Öffentlichkeit und auch in der Fraktion – unabhängig von den verschiedenen Strömungen und Landesgruppen – Kritik an Führungspersonen, auch an Andrea Nahles, wahrgenommen. Ich war und bin mir jedoch sicher, dass der Wechsel von Personen niemals einen nachhaltigen Erfolg verspricht, wenn sich nicht andere Dinge grundsätzlich ändern. Deshalb habe ich nach der Europawahl mit Ralf Stegner und Kevin Kühnert ein Papier unter dem Titel „Politik heißt etwas wollen – Zeit für neuen Gestaltungswillen der SPD“ veröffentlicht, das ich dieser Erklärung im Anhang beifüge. Hier haben wir dargelegt, wie unsere Haltung zu der Frage „Groko ja/nein“ und insbesondere zu der Perspektive künftiger Politikansätze ist. Insoweit hielten wir Personaldiskussionen gerade nicht für zielführend. Auch Parteivorstand und geschäftsführender Fraktionsvorstand haben sich am Montag nach der Europawahl in ähnlicher Richtung positioniert.
Es kam anders, weil sich Andrea Nahles veranlasst sah, nach einem Schreiben eines Abgeordneten aus dem Ruhrgebiet, die an sich für September geplante Wahl zum Fraktionsvorsitz vorzuziehen. Am vergangenen Mittwoch gab es dann eine Reihe von Sondersitzungen verschiedener Gruppierungen innerhalb der Fraktion und der Fraktion selbst. Teile der Debatten konnte man fast protokollarisch in den Medien nachlesen. Die Diskussionen zeigten tiefe Risse innerhalb der Fraktion und teilweise unmenschliche persönliche Angriffe. Auch innerhalb der Parlamentarischen Linken, deren Sprecher ich bin, war diese Zerrissenheit vor der Sitzung des Fraktionsvorstandes spürbar. Da mich einige aufforderten, gegen Andrea Nahles anzutreten, habe ich erklärt, niemals gegen Andrea kandieren zu wollen und auch für solche taktischen Überlegungen in keiner Weise zur Verfügung zu stehen. Dieses habe ich auch öffentlich gemacht, da Medien begannen, zu spekulieren. Ich habe dann im Fraktionsvorstand, der vor der Fraktion tagte, einen Vorschlag gemacht, der ebenfalls in den Medien nachzulesen ist, weshalb ich ihn hier auch noch einmal beschreibe: Um eine völlige Eskalation zu vermeiden, sah ich den einzigen Weg, die Wahl abzusagen und unter der Leitung von Andrea in den kommenden Wochen mit all den unterschiedlichen Gruppen und Kritikern die Konflikte offen anzusprechen und nach Lösungen zu suchen. Mir war klar, dass eine Abstimmung – wie auch immer sie ausgehen sollte, Verlierer produzieren würde – in dieser Phase in keiner Weise zu einer Befriedung führen würde. Sicherlich hätten einige Journalisten einen solchen Weg als Schwäche bezeichnet, um erneute Angriffe zu fahren. Wir müssen aber endlich die Kraft aufbringen, uns nicht von diesem alten Denken treiben zu lassen – das war und ist weiter meine feste Überzeugung. Ich habe versucht, bis zum Samstag weiter für diese Vorgehensweise zu werben. Das war leider vergeblich, so dass Andrea am Sonntagvormittag die Konsequenzen gezogen hat. Ich bedauere diese Entwicklung außerordentlich.
Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger,
liebe Genossinnen und Genossen,
wir sind jetzt an einem Punkt, der deutlich macht, dass wir Dinge grundsätzlich klären müssen. Deshalb habe ich mich sofort am Sonntag in den Gremien erneut gegen personelle Schnellschüsse in Partei und Fraktion ausgesprochen. Wenn wir nicht zentrale inhaltliche und auch den Umgang miteinander betreffende Fragen klären, wird jede neue Person an der Spitze (oder jede Doppelspitze) wieder zur Disposition gestellt. Ich bin froh, dass sich Rolf Mützenich bereit erklärt hat, die kommissarische Leitung der Fraktion zu übernehmen. Er wird zusammen mit uns Stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden mit Sicherheit die Kraft aufbringen, in den kommenden Wochen in vielen Gesprächen mit den einzelnen Landesgruppen und Strömungen eine personelle Neuaufstellung des gesamten Fraktionsvorstandes zu organisieren. Vor allem wird er aber den Prozess organisieren, mit der CDU/CSU zu klären, inwieweit mit CDU/CSU die wichtigen Vereinbarungen im Koalitionsvertrag noch umzusetzen sind, was wiederum enorme Auswirkungen auf die Beurteilung der vereinbarten Halbzeitbilanz haben wird.
Ich bin mir ebenso sicher, dass Malu Dreyer, Manuela Schwesig und Thorsten Schäfer-Gümbel kommissarisch in der Partei gleichzeitig den Prozess beschreiben werden, auf welchem Weg wir die Nachfolge des Parteivorsitzes, die Bewertung der Halbzeitbilanz und die inhaltliche Profilierung, die uns im Bereich des Sozialstaatskonzeptes bereits gelungen ist, beschreiten können. Der Parteivorstand wird am 24.6. die notwendigen Beschlüsse fassen. Ich möchte nicht verhehlen, dass ich mich für eine breite Beteiligung der Mitgliedschaft stark machen werde. In dieser Phase müssen alle Mitglieder einbezogen werden.
Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger,
liebe Genossinnen und Genossen,
Politik kann ein sehr hartes Geschäft sein. Und natürlich muss es an sich um die inhaltliche Auseinandersetzung gehen, wenngleich in unserer medialen Welt häufig nur die persönliche Konfrontation beachtet wird. Deshalb finde ich wenig glaubwürdig, wie jetzt einige Mitleid ausdrücken, die noch vor einigen Tagen, Wochen und Monaten kontinuierlich gegen Andrea Nahles geschrieben und gehandelt haben. Dennoch, es ist zwar abgedroschen: Aber jede schwierige Situation hat auch ihre Chance. Ich bin sicher, dass die Idee der Sozialdemokratie hoch aktuell ist. Wir erleben ein immer weiteres Auseinanderklaffen der Schere zwischen Arm und Reich. Die großen Herausforderungen werden wir nur lösen können, wenn der internationale und nationale Zusammenhalt der Gesellschaft organisiert wird. Zudem brauchen wir eine sozial-ökologische Wende: Deshalb ist z.B. der Weg, den wir mit der Kohlekommission beschritten haben, der einzige, um eine gemeinsame Grundlage im Bereich der Energiewirtschaft zu schaffen, die die unterschiedlichen Interessensgruppen einbezieht und die planetaren Grenzen beachtet. Wir brauchen diese Ansätze z.B. in den Bereichen Mobilität und Landwirtschaft. Wir brauchen diesen Ansatz aber auch im Bereich Gesundheit, Pflege und Arbeit. Die Polarisierung von Themen, ohne Bereitschaft zum Kompromiss, wird an die Grundfeste der Gesellschaft gehen.
Ich hoffe sehr, dass es uns nun gelingt, Personaldebatten im Rahmen eines transparenten und fairen Prozesses hinter uns zu lassen und uns auf diese Fragen zu konzentrieren. In der gestrigen Fraktionssitzung habe ich die Bereitschaft dafür spüren können.
Herzliche Grüße!
Ihr/Euer Matthias Miersch MdB