Persönliche Erklärung zur Diskussion über die Impfpflicht

Bild: Fionn Große

Liebe Bürgerinnen und Bürger, 

liebe Genossinnen und Genossen, 

selten habe ich so mit mir gerungen. Das Thema Impfpflicht spaltet auch meinen eigenen Freundes- und Bekanntenkreis. Einerseits werden die Diskussionen teilweise hoch emotional geführt, andererseits wird aufgrund der Kontroversen das Thema „Corona“ sogar immer häufiger ausgeklammert. Vor Schulklassen problematisiere ich stets meine Aufgabe als Abgeordneter, die Interessen des Volkes im Parlament zu vertreten, wenngleich in vielen Fragen die Interessen sehr unterschiedlich sind und sich teils zuwiderlaufen. Corona emotionalisiert und polarisiert. In unzähligen Gesprächen und Briefwechseln habe ich Argumente ausgetauscht. Jede Statistik wird für die eigene Sichtweise interpretiert und teilweise selbsternannte Expertinnen und Experten als Kronzeugen benannt. Dazu kommen Fehler, die auch Politikerinnen und Politiker gemacht haben, indem z. B. eine Impfpflicht gegen das Corona-Virus kategorisch ausgeschlossen wurde oder suggeriert worden ist, mit der einen oder anderen Maßnahme sei Corona zu besiegen. Ich möchte mit dieser Persönlichen Erklärung mein Abstimmungsverhalten wie üblich direkt erläutern. Ich bin mir sicher, dass mir widersprochen wird, dass zugestimmt wird und dass ich vielleicht auch mit meinen Annahmen in ein paar Monaten widerlegt werden kann. All das gehört zu meiner Verantwortung als Abgeordneter, der versucht, nach bestem Wissen und Gewissen die Interessen der Bevölkerung im Deutschen Bundestag zu vertreten. 

Die Abstimmung heute zeigt, dass kein Antrag eine Mehrheit gefunden hat, obwohl die eindeutige Mehrheit im Impfen eine wirkungsvolle Maßnahme zur Bewältigung der Pandemie sieht. Ich hätte mir sehr gewünscht, dass der Bundestag über die Fraktionsgrenzen hinweg einen guten Beschluss gemeinsam gefasst hätte. Auch ich habe mich in den letzten Wochen in meiner Position immer wieder hinterfragt und auch Kompromisse ausgelotet. 

So habe ich mehrfach auch öffentlich betont, dass für mich die Frage der Verhältnismäßigkeit neben der medizinischen Einordnung und der Frage der Vollziehbarkeit einer Maßnahme entscheidende Gesichtspunkte bei der Entscheidung über eine Impfpflicht sind. Für mich steht auch fest, dass wir mit Corona leben müssen und dass eine „Null-Covid-Strategie“, wie sie von einigen Virologen verfolgt wird, nicht zielführend sein wird. Zudem haben wir gesehen, dass die verfügbaren Impfstoffe zeitlich und medizinisch unterschiedlich wirken und auch die verschiedenen Virusvarianten die Beurteilungsspielräume verändern. Kurzum: Es wird immer wieder neue Aspekte geben und auch Maßnahmen, die möglicherweise heute noch nicht erkennbar sind. Welche Gesichtspunkte waren für meine Entscheidung maßgeblich, dem vorliegenden Kompromiss der Gruppe der Befürworter einer allgemeinen Impfpflicht und der Gruppe, die eine Beratungspflicht favorisiert hatte, zuzustimmen: 

1. Nach allen vorliegenden Informationen sind bei der Gruppe der Ü-60-Jährigen am häufigsten ein Krankenhausaufenthalt und eine Inanspruchnahme der Intensivstationen notwendig. Auch die Sterberate ist in dieser Gruppe am höchsten. Im Gegensatz zu anderen Ländern ist die Impfquote in der Bundesrepublik Deutschland gerade bei den Ü-60-Jährigen verhältnismäßig niedrig. Demgegenüber ist das Risiko eines schweren Verlaufs bei den unter 60-Jährigen deutlich abgeschwächter. 

Eine allgemeine Impfpflicht ab 18 Jahren habe ich deshalb aufgrund der derzeit vorliegenden Erkenntnisse bereits in den letzten Wochen für unverhältnismäßig gehalten, so dass ich den Antrag für die Einführung einer allgemeinen Impfpflicht auch nicht mitgezeichnet habe. 

2. Die Überlastung des Gesundheitssystems ist für mich das verfassungsrechtlich entscheidende Kriterium gewesen. Viele Operationen und Behandlungen mussten in den vergangenen zwei Jahren verschoben werden. Die Folgen davon können die Lebensqualität und den Lebenslauf vieler Patientinnen und Patienten massiv beeinträchtigen, die nicht rechtzeitig behandelt wurden. Aus vielen persönlichen Begegnungen weiß ich, welche große Belastung das Pflegepersonal ertragen musste und welche Erwartungshaltung auch an mich insoweit herangetragen wurde, durch eine Impfpflicht hier Abhilfe zu schaffen. Wenn eingewendet wird, dass Menschen auch durch andere Verhaltensweisen das Gesundheitssystem belasten und der Pflegebereich finanziell nicht angemessen ausgestattet ist, so ist das richtig, liefert allerdings für mich keinen Grund, die Bekämpfung einer Pandemie und die damit verbundene hohe Gefahr der Überlastung des Gesundheitssystems durch eine altersbezogene Impfpflicht zu unterlassen. 

In meiner Abwägung habe ich zudem berücksichtigen müssen, dass bei der Omikron-Variante die Belastung des Gesundheitssystems im Verhältnis zu den Infektionen geringer ist, als z. B. bei der Delta-Variante. Unabhängig von der Tatsache, dass das Gesundheitssystem dennoch nicht unerheblich weiter belastet ist, kommt nun der Entscheidungsspielraum hinzu, den das Bundesverfassungsgericht dem Bundestag in den vorangegangenen Entscheidungen zu Impfpflichten eingeräumt hat. Die überwiegende Anzahl der Aussagen der Sachverständigen und der vorliegenden Studien lassen den Schluss zu, dass die verfügbaren Impfstoffe vor schweren Verläufen schützen, wenngleich auch hier die Dauer der Wirksamkeit und auch Impfdurchbrüche zu beachten sind. Auch wissen wir noch nicht, welche Virusvariante im Herbst vorherrschend sein wird. Gerade der größtmögliche Schutz im Herbst und Winter muss nach den bisherigen Erfahrungen jedoch das Ziel sein. Deshalb muss aufgrund des zeitlichen Vorlaufs einer Grundimmunität durch Impfung aber jetzt gehandelt werden, so dass der vom Bundesverfassungsgericht eingeräumte Ermessensspielraum nach meiner Meinung auch die Verpflichtung trotz offener Fragen rechtfertigt. 

3. Der Kompromiss hätte zudem die Impfnachweispflicht für die Ü-60-Jährigen erst ab Oktober vorgesehen. In diesem Zusammenhang wären mit Juni und September zwei Zeitpunkte in das Gesetz aufgenommen gewesen, an denen der Deutsche Bundestag u. a. Impfquote und Infektionsgeschehen zu beurteilen gehabt hätte. Dieses hätte ermöglicht, weitere Aspekte in die zu treffenden Entscheidungen einzubeziehen. Bis dahin wäre es meines Erachtens nach auch wichtig gewesen, verlässliche Ergebnisse aus Antikörperstudien vorliegen zu haben, um diese Erkenntnisse in die weiteren Entscheidungen einzubeziehen. 

Ein weiterer Schwerpunkt des Kompromisses hätte auf einer Beratungspflicht durch Ärzte gelegen. Dies hätte ermöglicht, all die Zweifel, die mir gegenüber in zahlreichen Schreiben immer wieder genannt wurden (z. B. Nebenwirkungen, Art der verfügbaren Impfstoffe, Interpretation von Statistiken), offen im Rahmen einer fachlichen Beratung anzusprechen. Damit hätten wir aus den „Gräben“ rauskommen können, die ich in Social-Media-Gruppen auf „beiden Seiten“ gesehen habe. Ich gehe davon aus, dass viele Ungeimpfte bei einer fachlichen Beratung von der Sinnhaftigkeit einer Impfung hätten überzeugt werden können. Zudem wäre es zwingend notwendig, eine tragende, breitangelegte Impfkampagne auf den Weg zu bringen, die es versteht, empathisch mit z. B. Ängsten umzugehen. 

4. Schließlich war für mich der eingangs angesprochene Gedanke des Interesses der Allgemeinheit leitend gewesen. Wir können als Gesellschaft nur funktionieren, wenn wir Empathie füreinander aufbringen. Die überwiegende Anzahl der gefährdeten Bevölkerungsteile hat sich impfen lassen. Wir haben nun zwei Jahre lang erlebt, wie die Pandemie verläuft, welche Unsicherheiten es gibt und welche Maßnahmen wie wirken. Der Satz von Rosa Luxemburg, wonach die Freiheit des Einzelnen dort ihre Grenze findet, wo die Freiheit des Anderen beginnt, muss immer wieder neu abgewogen werden. Der Kompromiss einer kombinierten Beratungs- und Impfpflicht ab 60 Jahren mit den dargestellten Parametern hätte nach meiner Überzeugung einen angemessenen Ausgleich der Interessen geboten, wenngleich ich sicher bin, dass dieser verfassungsrechtlich überprüft geworden wäre. 

 

Liebe Bürgerinnen und Bürger, 

liebe Genossinnen und Genossen, 

da kein Antrag eine Mehrheit gefunden hat, gehe ich davon aus, dass die Diskussion über den richtigen Weg zur Bekämpfung der Pandemie weitergehen wird. Ich bin bereit, weiter zu lernen und fortlaufend neue Erkenntnisse abzuwägen. Zur Demokratie gehört, Mehrheiten zu akzeptieren und auch an neuen Initiativen mitzuarbeiten. Das wird jetzt Aufgabe von uns allen sein. 

Herzliche Grüße 

Ihr/Euer 

Dr. Matthias Miersch, MdB